20. Juni, der Tag an dem die Sonne heuer am längsten über dem Horizont ist. 23.43 Uhr, höchster Sonnenstand an meinem Wohnort. Die Wende.
Ich verschlafe ihn, diesen Moment, erkenne ihn nicht. Auch in den nächsten Tagen wird die Sonne noch genauso lang scheinen. Wahrscheinlich wird es in den Wochen danach sogar heißer, weil die Erde schon aufgewärmt ist und die Temperaturen mit Schwung und Kraft erst viel später ihren Höhepunkt erreichen werden.
Vorbei: Das Jetzt der Sonnenwende. Ich habe sie verpasst.
Jetzt: Ich begrüße das Johanniskraut, verbinde mich mit ihm, bitte um Erlaubnis.
Jetzt: Ich darf drei Stängel mitnehmen. Ich werde sie zu Hause trocknen.
Jetzt: Ich lasse Dank da und Wasser aus meiner Trinkflasche.
Eigentlich ist völlig unwichtig, wann genau dieser Wendepunkt war. Auch wenn ich es nicht sofort merke: Die Wende wirkt bereits. Die Nächte werden länger. Die zerstörerische Kraft einer ins Unendliche stärker brennenden Sonne ist gebrochen.
Bei „Wende“ denke ich an Joanna Macy und ihren Begriff „Großer Wandel“ und an ihre Arbeit, die wieder verbindet. Ich denke an Corona, und dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Dass sich ganz neue Möglichkeiten auftun, für alle, in alle Richtungen. Ich denke an die Pioneers of Change aus Österreich, die mit ihren Interviews und Aktionen weitergeben, wo überall der Wandel schon üppig Früchte trägt.
Ich denke auch an meinen eigenen Wandel. An meinen Flüssigzustand, wenn meine Box, mein „Überlebenswerkzeugkasten“, mein „Wie-ich-mir-alles-so-schön-zurechtgelegt-habe“ zu klein ist, gefährlich wackelt, sich erweitert.
Jetzt: Freude durchströmt alle meine Zellen, von der Kopfhaut bis in die Spitze meiner kleinen Zehen.
Jetzt: Ich bin genährt und aus Freude wird Traurigkeit. Adieu, Zeit des Wachsens und Blühens. Die Wende bringt die Zeit des Fruchtens.
Jetzt: Vorsichtig begrüße ich meine Angst und lasse sie in alle meine Nervenzellen einsickern.
Jetzt: Ein erster Wanderschritt, noch einer. Ins Ungewisse...